Mut-mach-Projekt

 


 

2003 erkrankte mein Vater an Krebs. Eigentlich war er wegen einer Entzündung der Schulter ins Krankenhaus gegangen. Da er aber schon seit einiger Zeit an Magenproblemen litt, ließ er sich eine Magenspiegelung machen. Dabei wurde ein Karzinom zwischen Speiseröhre und Magen festgestellt. Zunächst ging man davon aus, dass der Magen komplett entfernt werden müsse, daher schrieb mein Vater einen Abschiedsbrief an seinen Magen:

Leb wohl, mein bester Freund

Leb wohl? Oh Gott nein, das ist eigentlich nicht die richtige Formulierung die ich als aufrichtigen Herzenswunsch an dich richten möchte, denn du wirst ja wohl bald nicht mehr existieren. Aber so sagt man das halt eben immer. Sogar am Grab sagen sie es als letzten Gruß. Also verwende ich diese Floskel ebenfalls, ist sie doch gut gemeint und sicherlich für ein Leben nach dem Tode gedacht, obwohl ich mir das bei dir schwerlich vorstellen kann. Es sei denn auch für einen Magen gibt es eine Reinkarnation und du wirst später einmal in einem anderen Körper deine aufopfernde und selbstlose Tätigkeit weiterführen. Ich wünsche es dir sehr, denn du warst immer stark und belastungsfähig, was dem anderen Korpus, in den du dann vielleicht hineingeboren wirst, zugute kommen wird.

Als man mir am Freitag, dem 30. Mai 2003 in der Klinik endgültig mitteilte, dass es unumgänglich sei, dich durch einen chirurgischen Eingriff für immer aus unserem Leib zu entfernen, war ich naturgemäß und ebenso begreiflicherweise zunächst sehr bestürzt. Doch die Umstände, die zu dieser für dich und mich schrecklichen Tatsache führten, lassen leider keine andere Möglichkeit zu, mein eigenes Leben zu retten. Ich hoffe du hast Verständnis dafür, dass in diesem Falle mein Egoismus berechtigt und vordergründig ist. Doch du kannst stolz sein, verhilft doch dein Abschied allen anderen Organen zum weiteren Leben, denn dieser boshafte und heimtückische Auswuchs von dem du befallen wurdest, hätte sich bei deinem Verbleib gewiss auch noch bei ihnen eingenistet und lebensbedrohliche Schäden hervorgerufen. Doch bitte ich dich von ganzem Herzen, dich nicht als Märtyrer zu sehen, denn ich glaube nicht, dass du in die Rolle eines Säulenheiligen schlüpfen möchtest. Betrachte dich als Retter deiner nachbarlichen Organe und somit auch als Erhalter meines Daseins. Verzeih, jetzt werde ich schon wieder eigennützig.

Erinnerst dich noch, als wir unsere ersten Gehversuche machten? Als du nach meiner Geburt zum ersten Mal die Milch meiner Mutter aufnehmen musstest. Weißt du noch, als der erste Brei dich einschmeichelnd füllte? Gar oft hast du nach dem sehnsüchtig erwarteten "Bäucherchen" mit einem Schwupp einen kleinen Teil der aufgenommenen Nahrung wieder herausgestoßen. Du musstest dich schließlich daran gewöhnen, dass du nun regelmäßig im Zyklus deine Arbeit zu verrichten hattest. Dir blieb keine andere Wahl. Doch du hast dich auch zuweilen verwehrt, wenn ich dir zu viel zumutete. Hast dich dann einfach umgestülpt und kurzerhand die dir anvertraute Kost auf dem umgekehrten Weg zurückbefördert. Und das war gut so, denn du warst die Polizei, die nicht zuließ, dass unbefugte Dinge in mir ein böses Spiel trieben. Kannst du dich noch an unsere erste Fahrt mit der Achterbahn erinnern? Oh Gott, wie war uns beiden anfangs zu Mute. Doch dann machte es unendlichen Spaß und wir suchten beide den Kitzel. Weißt du noch, als ich als Halbwüchsiger dir zum ersten Mal um mich mit Gleichaltrigen behaupten zu können, einen Branntwein anvertraute? Nie wieder sagte ich, aber man soll ja bekannterweise niemals nie sagen. Doch du gewöhntest dich daran, dass bei Feierlichkeiten des Öfteren über den Durst getrunken wurde, ganz zu schweigen von opulenten Speisen, die dich immer sehr belasteten. Auch bei zahlreichen Süßigkeiten von fürstlichen Sahnetorten bis hin zu überfüllten Waffeltütchen mit sahnebedecktem Eis wurdest du gefordert. Das alles musstest du verarbeiten und hast es – wenn auch manchmal mit berechtigtem Murren – aufopfernd getan. Dafür danke ich dir mit großer Wehmut von ganzem Herzen. Aber nicht nur für deine Schwerstarbeit, sondern auch für die angenehmen Gefühle, die dich zum Beispiel bei der Liebe durchströmten und die du in meinen Kopf weiterleiteste, möchte ich dir Dank sagen. Du warst mir in meinem Leben ein kostbarer Partner und treuer Wegbegleiter. Nimm mit diesen Zeilen meine tief empfundene Wertschätzung und Ehrerbietung entgegen. Und wenn es denn eine Wiedergeburt sowohl bei dir als auch einst bei mir geben sollte, so warte bitte und schlüpfe bei meinem neuen Lebensbeginn ganz rasch in mich hinein, damit wir wieder vereint sind. Ich verspreche dir, dich schonlichst zu behandeln, damit wir dann in diesem unserem nächsten Leben bis zum Ende für immer zusammen bleiben werden. Es wäre mein größter Wunsch. ..... Leb wohl, mein Freund.

Die OP überstand er relativ gut, ein Teil des Magens blieb ihm erhalten. Er lernte mit den neuen Gegebenheiten umzugehen und mit der Diagnose zu leben. Ein knappes Jahr später stellte er Probleme beim Gehen fest und auch die eine Hand wollte ihm nicht mehr so recht gehorchen. Diagnose: Hirntumor. Aber auch nun blieb mein Vater voller Hoffnung dass alles gut gehen würde. Nach der OP und der Bestrahlung trug er zeitweise eine Glatze. Ich fand sein Gesicht und den sich noch immer darin spiegelnden Humor wundervoll, und so machte ich ein Foto. Aus diesem Foto heraus entstand die Idee zu einer Mut-mach-Postkarte.

 

Im Sommer 2005 mussten dann leider Nebenniere und Milz auf Grund der Erkrankung entfernt werden. Nachdem er sich nach der OP relativ schnell erholt hatte, machten ihm dann mehrere Lungenentzündungen, ein Hirninfarkt und andere Dinge schwer zu schaffen. Mehrere Krankenhausaufenthalte folgten. Im April 2006 wurde er in eine Reha-Einrichtung verlegt, von dort aus am 20.06.06 in ein Pflegeheim, wo er am 20.07.2006 verstarb. Doch bis zum Schluss sagte er: Das Leben ist schön...

Mir ist es wichtig das Andenken an meinen Vater zu erhalten. Und ich wünsche mir seine Einstellung, seinen Mut und seinen Humor für mein Leben.

Ihm war es wichtig zu zeigen, dass das Leben in jeder Phase lebenswert ist. Dies wollte er auch gerne durch die Postkarte zeigen. Vielleicht hat der ein oder andere ja auch Verwandten, Freunde, Bekannte die ein bisschen Mut gebrauchen können. Die Mut-mach-Postkarte kann zum Selbstkostenpreis (+ Porto) bei mir erstanden werden, bei Interesse - mail genügt...